Als der Mittelgewichtsboxer Rubin Carter und sein Freund John Artis 1966 in eine Bar in New Jersey gingen, ahnten sie nicht, dass sie nach diesem Abend des 17. Juni zwanzig Jahre im Gefängnis verbringen würden. Drei Menschen wurden in der Lafayette Bar in Patterson, New Jersey erschossen, die Polizei beschuldigt sofort Carter und Artis. 1966 erscheint in vielerlei Hinsicht ähnlich wie 2022: als Afroamerikaner war Carter besonders von Polizeigewalt und Rassismus gefährdet. Ein Zeuge meinte, dass er zwei Männer gesehen habe, die nach Boxern aussähen. Rubin Carters Unglück war, dass er sich zu diesem Zeitpunkt in der Nähe aufhielt. Und dasselbe geschah auch Jacob Black, der erst vor zwei Jahren von der Polizei erschossen wurde, obwohl er nur bei einer Fahrkontrolle aus seinem Auto stieg. Bob Dylan war sein Sprachrohr, der Rubens in den Siebzigern im Gefängnis besuchte und seine ungerechte Festnahme in einem Lied niederschrieb, das sich wie ein Film anhört, aber die Realität widerspiegelt. Das Lied entwickelte sich zu mehr als nur einem Nummer 1 Hit: Hurricane wurde von einem Protestierenden für Protestierende geschrieben.
Von der Nummer 1 der Welt zum Gefängnisinsassen
Man stelle sich diese Szene vor: bevor Rubin Carter (1937-2014) unschuldig verurteilt wurde, war er ein erfolgreicher Mittelgewichtsboxer. Er stammte aus einer armen Familie aus New Jersey, hatte im Zweiten Weltkrieg gekämpft und sich durch das Boxen ein neues Leben aufgebaut. Sein Leben kann man in zwei Abschnitte teilen: vor der Festnahme wegen Mordes und alles danach. Am 17. Juni 1966 hielt die Polizei ihn und seinen Freund John Artis in New Jersey auf. Es habe einen dreifachen Mord gegeben. Eine Zeugin – Patty Valentine – meint, sie habe zwei schwarze Männer in der Nähe der Bar gesehen. Carter und Artis hielten sich zufällig in der Nähe der Lafayette Bar auf, wo sich der Mord zugetragen hat. Ein Zufall, der ihnen für die nächsten 20 Jahre und darüber hinaus zum Verhängnis wurde. Carter wurde von der Polizei aufgehalten, weil er aufgrund seiner Hautfarbe sofort als Verdächtiger galt. Im Gefängnis fing Carter an, seine Autobiographie From Nr. 1 to Nr. 45472 zu verfassen, mit der er seine Seite der Geschichte erzählen will. In den Siebzigerjahren war seine ungerechte Festnahme fast schon in der Öffentlichkeit vergessen. Seine Autobiographie gelang in die Hände von Bob Dylan, der schon 1971 den Vietnam-Krieg denunzierte: “When the death count gets higher / You hide in your mansion“. Bob Dylan, das Sprachrohr gegen Ungerechtigkeit, hatte Rubin Carter nicht vergessen. 1975 erschien in Dylans Album Desired der Song, der in acht Minuten und dreiunddreißig Sekunden Jahre des Leids und der Ungerechtigkeit wiedergibt: Hurricane leitete Dylans Schlachtzug gegen das rassistische Justizsystem ein.
Der Songwriter und der Boxer
Es ist kaum zu unterschätzen, wie sehr Bob Dylans Protestlied Carter unterstützt hat. Nachdem Dylan Carters Autobiographie gelesen hat, besuchte er den ehemaligen Boxer im Gefängnis. Zusammen unterhielten sie sich über Carters ungerechte Festnahme. Dieser Besuch im Gefängnis hinterließ einen bedeutenden Eindruck bei dem Sänger. Danach war für Dylan eines klar: er musste Carters Geschichte an die Öffentlichkeit bringen – und gleichzeitig den Rassismus im Rechtswesen anprangern. Selber hatte Rubin Carter kaum eine Chance, seine Unschuld zu beweisen, wie Bob Dylan es in Hurricane ausdrückt: „The trial was a pig-circus, he never had a chance.“
Hurricane ist ein narratives Lied, das wie ein Film aufgebaut ist. Am Anfang tritt die Zeugin Patty Valentine auf, die es auch im echten Leben gegeben hat. Der Prozess war nur eine Farce, denn welche Chance hatte Carter gegen die weiße Jury?: ,,The D.A. said he was the one who did the deed / And the all-white jury agreed.“ Bei einem Konzert im Madison Square Garden sammelte Bob Dylan 1975 Geld für Carter, damit er sein Urteil anfechten konnte. Für Rubin Carter war Bob Dylans Lied nicht nur eine Anprangerung gegen ein rassistisches Justizsystem, sondern hielt ihn in der Öffentlichkeit am Leben. Jede*r, der Hurricane hört, sieht die Geschichte aus Carters Augen, etwas, was ihm für Jahre verwehrt worden war.
Rubin Carter, George Floyd, Amadou Diallo, Eric Garner…
Zwar hat Bob Dylan Rubin Carter eine Stimme gegeben, die sofort Anklang in der amerikanischen Gesellschaft fand; dies blieb vielen weiteren Opfern von Racial Profiling aber verwehrt. Nicht jedes Opfer eines rassistischen Justizwesens kann darauf hoffen, die gleiche mediale Präsenz zu erhalten wie Rubin Carter. Obwohl Protestlieder in ihren Botschaften nicht an Bedeutung verloren haben, bleiben viele Opfer von Racial Profiling unbekannt. Bei Racial Profiling verdächtigt die Polizei Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe Straftaten begangen zu haben. Am 04. Februar 1999 wurde Amadou Diallo von der New Yorker Polizei 19-mal angeschossen, weil er ihnen verdächtig vorkam, ähnlich erging es dem 43-jährigen Eric Garner. Kein Lied erzählt davon, wie er sich erhoffte, in den USA ein neues Leben aufzubauen, oder davon, dass die Polizei freigesprochen wurde.
Der Soundtrack für Demonstrationen?
Protestlieder verfügen über eine Kraft, denen sich viele Künstler*innen schon vor Bob Dylan bewusst waren. Buffy Sainte-Maries 1964 erschienenes Lied Now That The Buffalo’s Gone erzählt von der Vertreibung amerikanischer Ureinwohner*innen aus ihren Reservaten. Ihr Lied heizte ein akutes Problem auf, da die Behandlung von Ureinwohner*innen weiterhin ein wunder Punkt ist. Deswegen stellt Buffy Sainte-Marie dieses brisante Problem schonungslos und ohne Hemmungen dar. Ihr Lied erzählt in knappen Worten von den Ungerechtigkeiten, wie Ureinwohner*innen missachtet werden und dessen Anfänge Jahrhunderte zurückgehen: „Oh it′s written in books and in song / That we’ve been mistreated and wronged“.
Musik kann die Öffentlichkeit schneller erreichen als ein Sachbuch. Durch ein dreiminütiges Lied können Hörer*innen mühelos und niederschwellig von einer Ungerechtigkeit erfahren. Protestlieder wie Hurricane oder Now That The Buffalo’s Gone können wie Journalismus wirken: sie informieren schnell, knapp und effektiv über ein bestehendes Problem. Musik hat die Kraft, Menschen zu mobilisieren. Das betont auch der Musikprofessor Mariusz Kozak in der Washington Post. Laut Kozak würden Protestierende sich durch Musik viel näher zueinander in ihrem Vorhaben fühlen. Diese Musik würde Demonstrant*innen eine besondere Art von Synchronität verleihen. Es ist viel einfacher, mit anderen Demonstrierenden auf die Straße zu gehen und ein gemeinsames Lied zu singen. In den 70ern waren es Bob Dylans Worte in Masters of War: „You that build the big bombs / You that hide behind walls.“
2020 waren es andere Lieder, die auf Protesten gesungen wurden. Lean on Me entwickelte sich zu einem wichtigen Anker für die Demonstrant*innen, die für George Floyd Gerechtigkeit verlangten. Lieder sind seit jeher ein unentbehrliches soziales Bindemittel, das Menschen in ihren Protesten vereint.
Was Eric Garner, Amadou Diallo oder Rubin Carter zugestoßen ist, sind keine Einzelfälle. Damit ihre Geschichten in Erinnerung bleibt, braucht man Protestlieder. Nach über zehn Jahren erinnerte sich kaum noch jemand an Rubin Carter. Erst durch Hurricane erfuhren Hörer*innen, wie die Justiz ihn vernachlässigt hat. Eine Geschichte in drei oder vier Minuten findet schneller Gehör als ein dreihundert Seiten langes Buch. Auch für Opfer können Protestlieder heilsam wirken – denn wie Rubin Carter können sie ihre Geschichte in ihren Worten wiedergeben. Und was passiert danach? Jemand hört das Lied, teilt es mit anderen, die teilen es wiederum auch. So fängt ein Protest an.