Es war einmal ein Dorf

Es war einmal ein Dorf. Copyright: Johanna W

Es war einmal ein Dorf, das Lützerath hieß.

Vielleicht wird das einmal ein Opa zu seinem Enkelkind sagen. Das Enkelkind, gerade erst 10 Jahre alt geworden, sitzt auf dem Schoß des Opas und hört gespannt zu. Opa erzählt wieder vom Dorf.

Die umstehenden Verwandten stöhnen genervt auf: Zu oft haben sie diese Geschichte schon gehört. Doch der Opa erzählt sie immer wieder. Die Geschichte hat sich in sein Gedächtnis eingebrannt. Er denkt an den Ort zurück. An das Dorf, das es jetzt nicht mehr gibt. Denkt an die Häuser, die Dorfgemeinschaft, die Landwirte und an all die guten und schlechten Tage, die er dort erlebt hat.

Für das Kind ist es eine spannende Geschichte, doch für uns ist es im Moment Realität.

Was ist eigentlich das Problem?

Wir befinden uns südwestlich von Düsseldorf. Lützerath war eigentlich ein Ort wie so viele andere auch, mit unter 100 Einwohner*innen, reihte sich die Ortschaft in die unzähligen kleinen Dörfer in NRW ein.

Doch eins unterscheidet die Ortschaft von den anderen Dörfern: Sie wird vermutlich eine der letzten sein, die aufgrund des Tagebaus Garzweiler 2 abgebaggert wird.

Der Tagebau Garzweiler 2 liegt zwischen Aachen und Düsseldorf und ist die westliche Erweiterung des Tagebaus Garzweiler 1.

Nach geologischen Schätzungen liegen im Gebiet von Garzweiler circa 1,3 Milliarden Tonnen Kohlereserven und diese Kohlereserven werden seit 2006 abgebaggert. Dafür müssen nicht nur Dörfer weichen, sondern auch Friedhöfe, Denkmäler, Flüsse, Seen und Wälder.

Von 2006 bis 2038 sollten eigentlich 12 Orte in der Nähe von Düsseldorf abgerissen werden.

Doch Anfang Oktober einigte sich Robert Habeck mit der Wirtschaftsministerin von NRW Mona Neubaur und dem Energieversorgungskonzern RWE darauf, den Kohleausstieg auf 2030 vorzuziehen. Dadurch bleibt der dritte Umsiedlungsabschnitt erhalten und fünf Ortschaften werden gerettet.

Doch Lützerath ist nicht unter diesen fünf, denn es gehört zum zweiten Umsiedlungsabschnitt und soll deswegen noch abgerissen werden. Hinzu kommt auch, dass die beiden Kraftwerke Neurath D und E zwei Jahre länger am Netz bleiben als geplant.

Robert Habeck hat diese Entscheidung mit der Gasknappheit, angesichts des Krieges in der Ukraine, begründet.

Widerstand und niemals Aufgeben

Lützerath ist längst umgesiedelt. Die meisten Bewohner*innen sind in das neu entstandene Dorf Immerath Neu umgezogen. Bis Anfang Oktober lebten nur noch Klimaaktivist*innen und der letzte Landwirt Eckardt Heukamp in diesem Ort. Eckardt ist jahrelang gegen die geplante Enteignung von RWE vor Gericht gezogen. Doch nach dem Beschluss des Oberverwaltungsgerichts Münster im März 2022 verließ auch er Anfang Oktober notgedrungen das Dorf und ließ die Klimaaktivist*innen allein zurück. Die Aktivist*innen wollen den Abriss des Dorfes verhindern und Aufmerksamkeit auf die Konsequenzen des Kohleabbaus richten.

Die Häuser, die noch nicht abgerissen wurden, sind jetzt mit Graffiti besprüht, mit Stickern beklebt und mit Bannern behangen. „Lützi bleibt“ liest man auf fast jedem dieser Gebäude. Auf den freistehenden Flächen haben die Aktivist*innen Hütten und Baumhäuser aus alten Paletten selber gebaut. Sie wirken etwas verfallen und leicht gebrechlich. Dort im kalten Herbst zu wohnen, ist bestimmt nicht immer angenehm.

Wenn man einmal durch Lützerath durchgeht, kommt man auf der anderen Seite beim Tagebau raus. Dort kann man an der Böschung stehen und hinab in das große, schwarze Loch blicken, das auch bald Lützerath verschlingen wird. An dieser Grenze ist auch die angemeldete Mahnwache aufgebaut. „Eine Möglichkeit für alle legal zu demonstrieren“, erzählt mir eine Klimaaktivistin bei einem Rundgang durch das Dorf.

Laut ihr lebt Lützerath, weil hier eine Alternative zu den gesellschaftlichen Strukturen angeboten wird und man so etwas erschaffen kann. Lützerath lebt also als Protestort weiter. Ein Protestort, den die Aktivist*innen geschaffen haben. Dort haben sie nicht nur die Möglichkeit bekommen gegen den Kohleabbau zu demonstrieren, sondern auch sich eine eigene Utopie, im sonst menschenleeren Lützerath, zu bauen. Hier muss keiner Miete zahlen, jeder ist willkommen und das Gemüse wurde sich im Sommer selber auf den unbenutzten Feldern angebaut.

Wenn die Kohle unter Lützerath abgebaggert wird, kann auf keinen Fall das 1,5 Grad Ziel erreicht werden, erklärt sie mir weiter.

Um das 1,5°C Ziel noch einhalten zu können muss, laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, noch 100 Millionen Tonnen ab Januar 2021 abgebaut werden. Dies könnte ohne weitere Zerstörung von Lützerath und den Dörfern des dritten Umsiedlungsabschnittes geschehen. Laut der Studie wäre „jede Überschreitung nur dann mit den Klimaschutzzielen vereinbar, wenn andere Kraftwerke oder Sektoren dies durch entsprechend stärkere Klimaschutzmaßnahmen kompensieren“. Das wird allerdings vom Institut als unwahrscheinlich angesehen, deswegen muss RWE einen Kohleausstieg bis spätestens 2028 anvisieren, um die Klimaschutzziele noch einzuhalten.

Freiraum schaffen und machen worauf man Lust hat, das liebt auch ein anderer Klimaaktivist an der neu entstandenen Utopie. Er glaubt auf keinen Fall, dass das Dorf Lützerath noch zu retten ist.

Doch aufgeben ist für ihn keine Option, auch nicht, wenn die Polizei kommt und mit der Räumung beginnt, auch nicht, wenn er Angst davor hat, dass sein Zuhause abgerissen wird. Auch dann gibt er nicht auf. Sein moralischer Kompass wäre zu groß, erzählt er mir. Er könnte nicht mehr in den Spiegel schauen, wenn er jetzt aufgeben würde. Was er nach der Räumung machen will, weiß er noch nicht. Vielleicht zieht er zur nächsten Räumung, zur nächsten vorübergehenden Utopie.

Häuser, die die Aktivist*innen aus Paletten gebaut haben, um dort zu wohnen. Copyright: Johanna W
Der Tagebau Garzweiler 2 an der Grenze zu Lützerath. Copyright: Johanna W

Einer kennt sie alle

Die meisten Dörfer, die von 2006 bis 2038 abgerissen werden sollten, sind heute entweder verlassen oder schon vollständig abgerissen. Bei den meisten kann man nur noch erahnen, wie sie früher ausgesehen haben, als dort noch Menschen wohnten. Doch einer, der fast von Anfang an den Umsiedlungsprozess und den Abriss der Dörfer begleitet hat, kennt alle Dörfer. Es ist Arne Müseler.

Arne ist Fotograf und 2006 fing er an, die Dörfer zu dokumentieren. Aus seinen Bildern sind ein Buch und eine Website entstanden. Beide zeigen eindrucksvoll die Veränderung von lebendigen zu verlassenen Dörfern.

Laut Arne war 2006 die Entscheidung, dass die Dörfer abgerissen werden sollen, ziemlich endgültig. Die Bewohner*innen hatten wenig Hoffnung, dass sich das noch ändern kann.

Als Garzweiler 2 in den 90er Jahren beschlossen wurde, gab es Proteste, aber die sind auch schnell wieder erloschen. Denn Arne sagt: „Die Leute müssen ja auch mit der Umsiedlung klarkommen und sich damit abfinden. Sonst wirst du ja deines Lebens nicht mehr glücklich, wenn du nicht versuchst damit abzuschließen. Viele Leute haben gesagt, das wird jetzt passieren. Wir siedeln jetzt um und schauen, dass der neue Ort so gut wie möglich wird. Als dann die Diskussion losging, dass doch die Möglichkeit besteht, den dritten Umsiedlungsabschnitt in Garzweiler zu verschonen, erwachte auch bei den Bewohner*innen stellenweise wieder der Kampfgeist.“

Doch trotzdem stehen die Dörfer des dritten Umsiedlungsabschnittes jetzt seit 7 bis 8 Jahren leer. Einige Dörfer müssen sogar aufgrund der baufälligen Substanz dennoch abgerissen werden.

Circa 10 Jahre vor dem Abriss des Dorfes, wenn der neue Umsiedlungsort feststeht und die ersten Grundstücke für den Hausbau zur Verfügung stehen, bekommen die Bewohner*innen des alten Ortes den Umsiedlerstatus. Von dort an können bzw. müssen sie ihre Grundstücke an RWE verkaufen.

Dafür kommt ein Gutachter und schätzt den Wert des Hauses. Entweder bezahlt man selber den Gutachter oder man kann sich einen Gutachter von RWE aussuchen.

Der Gutachter schätzt aber immer nur den Verkehrswert. Der Verkehrswert ist die Summe, die dein Haus aktuell wert ist. Es wird nicht die Summe geschätzt, die man bräuchte, um das Haus wieder eins zu eins aufzubauen.

Für viele stellt genau das eine Herausforderung dar, sagt Arne Müseler. Denn oft müssen die Bewohner*innen zusätzlich einen Kredit aufnehmen, um neu zu bauen oder sie bauen kleiner oder ziehen in eine Wohnung um.

In den Verhandlungen mit RWE bekommt man den Verkehrswert plus eine Summe X. Diese Summe entsteht aus Zulagen und Nebenentschädigungen und die kann man noch verhandeln.

Arne erzählt: „Dann gibt es eben Leute, die verhandeln besser oder schlechter. Ein fünfzigjähriger Versicherungsmakler verhandelt natürlich anders, als eine neunzigjährige alleinstehende Omi und da kann man sich natürlich auch fragen: Ist das fair?“

Entweder sind die Dörfer jetzt leer oder abgerissen. Doch Arne hat sie alle dokumentiert. Für die Bewohner*innen sicherlich ein Stück Heimat, wenn auch nur auf einem Blatt Papier.

Und was sagt RWE?

RWEs Statement zu der Vereinbarung mit Robert Habeck und Mona Neubaur ist, dass sie durch den vorgezogenen Kohleausstieg einen maßgeblichen Beitrag  für die deutschen Klimaschutzziele leisten. Bereits vor dieser Entscheidung soll sich die Unternehmensstrategie im Einklang mit dem Pariser Klimaabkommen befunden haben.

Sie seien bereit, 2030 aus der Braunkohle auszusteigen. Außerdem trügen sie mit dem verstärkten Einsatz der Braunkohlekraftwerke zur Versorgungssicherheit in Deutschland bei.

Wenn man am Tagebau steht und in das schwarze Loch hinabschaut, ist das schwer zu glauben und auch die Klimaaktivistin nennt einen ganz anderen Grund für die Vereinbarung: „RWE macht das vor allem aus Profitinteresse, da sie mit Lützerath noch Geld verdienen können, wollen sie das Dorf auch noch abreißen.“

Johanna W

Von Johanna W

Johanna ist siebzehn Jahre alt und kommt aus Rheine, einer Stadt in der Nähe von Münster. In ihrer Freizeit spielt sie gerne Fußball, fotografiert Freunde und empört sich über politische Themen. Aus dieser Empörung und nächtlichen Diskussionen schöpft sie die Inspiration für ihre Texte, die entweder in ihren Schreibbüchern verloren gehen oder hier veröffentlicht werden. Nach dem Abi möchte Johanna reisen und ihren Traumberuf finden.

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