In einem Vlog aus dem Jahr 2017 lernt Ruby Grangers (Pseudonym) fünfzehn Stunden an einem Tag. Begleitet von ihrer Kamera führt sie ihre Zuschauer*innen durch ihren Alltag und dokumentiert ihren Lernprozess. Ihre Bücher liegen um sie herum, ihre Notizen ordentlich zusammengeheftet auf ihrem Schreibtisch. Bald wird sie ihre A-Levels schreiben, sie hat sich jahrelang auf diese Prüfungen vorbeireitet. Produktiv sein und Punkte von der To-Do Liste abhaken, ist bei Ruby höchste Priorität. Rubys Traum war es immer gewesen, Studentin an der Eliteuniversität Oxford zu sein. Es gibt eine ganze Community auf YouTube, wo Student*innen Tipps fürs Lernen hochladen. Während meiner Schulzeit bin ich auf Rubys Kanal gestoßen und war sofort begeistert. Ihre Disziplin beeindruckte mich und wir beide teilten den Ehrgeiz, gute Noten erzielen zu wollen. Ruby Granger ist eine der beliebtesten StudyTuber. Auf sozialen Medien wird sie für ihre Produktivität gefeiert. Ruby Granger alleine hat über 700.000 Abonnent*innen; Unjaded Jade (Pseudonym), eine weitere Studentin aus England, über 500.000. Laut eines Artikels der BBC würde StudyTube Lernen wieder cool machen. Social media feiert diese YouTuber, die anstelle von Clothing Hauls Lerntipps geben. Wie gesund ist es für Zuschauer*innen, wenn ihre Lieblingsyoutuber fünfzehn Stunden lernen?
StudyTube: hohe Leistungen zählen
StudyTuber laden Videos mit verschiedenen Inhalten hoch. Manchmal zeigen sie, wie man einen Lernplan kreiert oder durch schlechte Note dazu lernen kann. Ihre Inhalte können ganz hilfreich sein, denn viele Zuschauer*innen bedanken sich oft bei Ruby Granger. Ihre Videos helfen den Zuschauer*innen. Bei Lernmethoden oder Produktivität kann Ruby von ihren Erfahrungen berichten und anderen Student*innen zur Seite stehen. Es ist nicht einfach, den Unistress alleine zu bewältigen. Oft kann man sich diese Fragen nicht selber beantworten. Da ist es hilfreich, auf eine Community zu stoßen, in der alle dieselben Fragen quälen.
Es ist nicht einfach, für vier Klausuren gleichzeitig zu lernen und dabei ruhig zu bleiben. StudyTuber kennen sich in solchen Situationen aus. Sie motivieren ihre Zuschauer*innen. Wer nie gelernt hat, einen eigenen Lernplan zu erstellen, kann das von Ruby Granger übernehmen. Viele Student*innen müssen sich alleine mit dem komplizierten Universitätssystem durchschlagen. Ein Studium anzufangen kann sowohl eine aufregende, als auch eine stressige Zeit sein. Viele Student*innen gehen mit großen Erwartungen ins erste Semester. Ruby Granger war zum Beispiel enttäuscht über ihre erste Note an der Universität. Andere Student*innen haben dasselbe wie sie erlebt. In der Schule war es für Studierende einfacher, bessere Noten zu bekommen. Der Unterricht an der Universität ist ganz anders als in der Schule, die Dozent*innen haben höhere Anforderungen.
Hohe akademische Ziele mit Enttäuschungen
StudyTube scheut nicht davor zurück, auch die unschönen Seiten der Universität darzustellen. Ruby Granger geht offen damit um, dass sie von ihrer Traumuniversität Oxford abgelehnt wurde. An ihrer neuen Universität zeigt sie, dass man trotzdem erfolgreich sein kann.
Eines der positiven Dinge an StudyTube ist, dass man offen über ihre Misserfolge redet. Ruby sagt in einem Video, dass eine Ablehnung von Oxford ihr Selbstwertgefühl heruntergesetzt hat. Sie habe für eine lange Zeit ihren Wert an ihrer Oxford-Ablehnung gemessen. Unjaded Jade zeigt ihren Zuschauer*innen, dass es auch in Ordnung ist, nicht immer die besten Noten zu haben.
Mentale Gesundheit von Student*innen wird ansonsten nicht oft öffentlich diskutiert. In der Pandemie wurden Prioritäten von Student*innen außer Acht gelassen: Wann gibt es wieder Präsenzlehre, wie können Student*innen ohne Nebenjobs weitermachen? Deswegen ist es so wichtig, dass Unjaded Jade über ihre Erfahrungen mit mentalen Belastungen während ihrer Studienzeit offen umgeht. Sie gibt den Student*innen eine Stimme.
Toxische Produktivität – auch in der Pandemie
Wo liegen dann die unschönen Seiten der Community? Ruby Granger beendet jedes ihrer Videos mit einem ,,Have a productive week“. Da liegt schon das Problem. Ruby spricht immer davon, wie man produktiver und besser sein kann. Eine Userin auf YouTube hat sich entschuldigt, dass sie nicht wie Ruby Granger sein kann. Sie könne nicht die ganze Zeit so produktiv sein wie sie. Es verzerrt die eigene Wahrnehmung, wenn man sich anguckt, wie viel StudyTuber an einem Tag lernen. Nicht alle Student*innen schaffen das gleiche Arbeitspensum.
Produktivität hört laut StudyTube auch in der Pandemie nicht auf. Beispielsweise spricht Ruby Granger in einem Video von ,,lockdown goals“: Kalligrafie schreiben oder Morse Code lernen.
Viele Student*innen in Deutschland haben während des Lockdowns psychisch gelitten. Laut einem Beitrag der TU Berlin haben seit Beginn des Wintersemesters 2020/21 mehr Studierende psychische Beratungen an dieser Universität angefragt. Laut dem Artikel würden mehr Student*innen in eine Depression fallen. Es ist daher keine Selbstverständlichkeit, im Lockdown Lernziele zu erreichen. Lernen kann nicht immer die Priorität für Student*innen sein, da die soziale Isolierung den Unialltag noch schwieriger gemacht hat. Ein anderes Beispiel: Jack Edwards, über eine Million Abos, schreibt in einem Video seine Dissertation eine Woche vor der Abgabe fertig. Kann oder muss man auch so produktiv sein wie er?
Die Privilegien der StudyTuber
Viele StudyTuber sind selber sehr privilegiert. Die erfolgreichsten StudyTuber haben eine Gemeinsamkeit: sie alle kommen aus sozialen Milieus, wo Bildung eine Selbstverständlichkeit ist. Viele der beliebten StudyTuber genießen alleine das Privileg, den ganzen Tag lernen zu können, ungestört in ihrem eigenen Zimmer. Das jeder sich selbst beim Lernen filmen kann, ist auch keine Selbstverständlichkeit. Ruby Granger besitzt teures Equipment, um sich in ihrem Alltag zu filmen. Sie wohnt in einem großen Haus auf dem Land und in ihrem eigenen Zimmer bleibt sie ungestört. Während des Semesters muss Ruby auch nicht nebenbei jobben, um sich die Studiengebühren leisten zu können.
Ist StudyTube ein Vorbild?
StudyTuber sind ohne Frage eine beliebte Community auf YouTube, deswegen machen sie viel Geld. Weil ihre Zielgruppe hauptsächlich junge Schüler*innen sind, wollen diese die StudyTuber nachahmen. Ruby Granger verkauft Study Planners, Unjaded Jade hat ein Buch veröffentlicht, Jack Edwards ebenfalls. Kann man auch gute Noten erzielen wie Ruby Granger, wenn man ihre Produkte kauft?
Das führt zum anderen Problem von StudyTube. Es reicht nicht aus, die Study Planners von Ruby Granger zu besitzen oder ihre Lernmethoden nachzuahmen. Nicht alle Schüler*innen oder Student*innen besitzen ihre Privilegien. Ruby Granger ist auf eine Privatschule gegangen, was sich nicht alle ihrer Zuschauer*innen leisten können. Zwar geben StudyTuber zu, dass sie privilegiert sind und dass sie mehrere Möglichkeiten haben, aber das war es auch schon. In ihren Videos reflektieren sie nicht, wie ihre Privilegien sie im Bildungswesen erfolgreicher machen. Gute Noten reichen nicht immer aus, um im Bildungssystem Erfolg zu haben. In Deutschland beispielsweise kann es laut einem Beitrag der taz aus dem Jahr 2012 sein, dass ein Arbeiterkind mit denselben kognitiven Fähigkeiten wie ein Kind mit Akademikereltern anders als dieses keine Gymnasialempfehlung bekommt.
Was bei StudyTube fehlt, sind Themen über Privilegien. StudyTuber sollten transparenter sein und nicht in jedem Video fünf Stunden lernen. Das ist auch ungesund für ihre Zuschauer*innen. Es ist hilfreich, von StudyTube motiviert zu werden. Aber es muss eine Grenze geben, denn übermäßiges Lernen sollte nicht auf sozialen Medien gepriesen werden. Nicht alle Student*innen können dasselbe Arbeitspensum wie Ruby Granger schaffen. Heute muss ich schmunzeln, wenn ich daran denke, wie sehr ich Ruby nacheifern wollte. Während der Oberstufe hörte man ständig von Lehrer*innen, dass man gute Noten für das anstehende Abitur erbringen müsse. Mich selber unter Lerndruck zu setzen, hat meiner Motivation und meinen Noten nicht immer geholfen.
Das neue Semester hat diesen Oktober an vielen deutschen Universitäten angefangen und Studierende wollen ihr Bestes geben. Gerade bei StudyTube können Studierende diese Motivation finden. Gleichzeitig ist es nicht einfach, sich mit anderen StudyTubern zu vergleichen, wenn StudyTube nur die Highlights des Unialltags dokumentiert. Anstatt produktiv zu sein, schadet man nur seiner mentalen Gesundheit.