Von politischen Gummibärchen

Every month is Pride Month! Symbolbild und Federmäppchen von Amelie R

Das Private ist politisch

Politik wird nicht nur im Bundes- oder Landtag gemacht. Sie kann sehr persönlich daherkommen, sogar in den eigenen vier Wänden aufkommen. Zum Beispiel, wenn man beim Frühstücken mal wieder darüber debattiert, ob die Tomaten jetzt lieber Bio oder regional sein sollen (am besten beides). Auch die Entscheidung, welches Wort man – selbst im stillen Kämmerlein – für „Schokokuss“ benutzt, ist politisch. (Spoiler: Alle Bezeichnungen außer Schokokuss oder Schaumbusserl reproduzieren Rassismus und sollten einfach nicht verwendet werden. Außer man möchte unbedingt einen SCHOKOKUSS an den Kopf geworfen bekommen.)

„Alle Bezeichnungen außer Schokokuss oder Schaumbusserl reproduzieren Rassismus und sollten einfach nicht verwendet werden. Außer man möchte unbedingt einen SCHOKOKUSS an den Kopf geworfen bekommen“

Aber wieso haben denn jetzt diese persönlichen Entscheidungen, die vermeintlich niemanden etwas angehen, plötzlich doch etwas mit Politik zu tun?

Es gibt da diesen berühmten Satz. Er lautet: „Das Private ist politisch“ und prägte vor allem den Feminismus der 1970er Jahre. Eine gute Erklärung dieses Satzes liefert Pinkstinks – die Zeiten gendern sich in dem Onlineartikel Was heißt: das Private ist politisch? aus dem Jahr 2020. Dort wird erklärt, dass in den 70er Jahren begonnen wurde, private Verhaltensmuster zu hinterfragen. Zum Beispiel, dass Frauen sich um die Kinder und den Haushalt kümmerten, sich für ihren Ehemann zu schminken und schick zu machen hatten und dergleichen. Im Anschluss fragt der Artikel: „War [das] ihre eigene, private Entscheidung […] oder hatte das etwas damit zu tun, in welcher Gesellschaft sie lebten und welche Gesetze gemacht wurden?“ Ich würde sagen, die Antwort ist ganz klar, schließlich heißt es ja: „Das Private ist politisch.“

Eine weitere Verdeutlichung bietet The Curvy Magazine, welches sich selbst auf seiner Homepage als „ein grundsätzlich klassisches Frauenmagazin – nur eben mit ein paar Kilos mehr“ beschreibt und sich „[…] der kurvigen Frau und ihren Bedürfnissen [widmet]“.

Über „Das Private ist politisch“ ist dort online ein Artikel von Claire Weiss veröffentlicht, der aus dem Jahr 2019 stammt. Er heißt Fashion and Feminism: Das Persönliche ist politisch und gibt folgendes Beispiel: Wenn eine Frau u.a. von ihrem Mann oder Freund missbraucht oder unterdrückt werde, sei das die Reflexion der Unterdrückung von Frauen in unserer Gesellschaft allgemein.

Ich denke, diese Erkenntnis war nicht nur für die 70er Jahre prägend, sondern ist auch heute noch hochaktuell. Zudem lässt sie sich auch vortrefflich losgelöst vom Feminismus anwenden. Denn überall, wo uns Unterdrückung im Privaten begegnet, trägt sie zur gesamtgesellschaftlichen Zusammensetzung bei. Eine Gesellschaft ist schließlich nichts anderes, als viele, viele angehäufte Privatleben.

Nach dieser Logik wäre es also doppelt wichtig, mit dem eigenen Verhalten den eigenen Standpunkt zu vertreten und Partei zu ergreifen. Und dafür muss man noch nicht einmal einer Partei beitreten! Tatsächlich kann es sogar deutlich unspektakulärer sein – oder um auf den Anfang dieses Artikels zurück zu kommen: Nennt den Schokokuss einfach „Schokokuss“. Und wenn euch andere Süßigkeiten lieber sind, kann ich euch beruhigen. Es reichen im Grunde nämlich auch schon Gummibärchen und Buntstifte. Aber das sollte ich vermutlich erklären…

Es trug sich zu…

… dass ich mir mit einigen Freund*innen eine Tüte saurer Gummibärchen teilte. Die Gummibärchen waren vertreten in vier Farben. Schwarz, rot, gelb und orange. Diese Farben erinnerten stark an die Deutschland-Flagge, also wurde entschieden, alle Farben bis auf Schwarz und Rot, die Farben der Antifa, aufzuessen. Das war der Tag, an dem wir Gummibärchen politisierten.

Es war nämlich noch nicht einmal WM und um eine Deutschlandflagge einfach so mit sich herum zu tragen – als Gummibärchen oder in welcher Form auch immer – ist sie in den meisten Fällen einfach zu politisch. Außerdem waren wir wirklich nicht patriotisch genug, eine Landesflagge in unserer Gummibärchentüte zu dulden.

An einem anderen Tag beschloss ich, meine Buntstifte – gleichsam der Gummibärchen – zu politisieren, indem ich sie in meinem Etui in der Farb-Reihenfolge der Regenbogenfahne anordnete.

Manche Leute werden bei diesen Geschichten sicherlich belustigt den Kopf schütteln und den Wind um Gummibärchen und Buntstifte albern finden. Sie werden sagen: „Irgendwo ist auch mal Schluss“ und von Überpolitisierung sprechen.

Aber soll ich euch etwas sagen? Ich freue mich immer, wenn ich einen Blick in meine Federmappe werfe und dort die Buntstift-Regenbogenfahne weht. Und nein, es ist nicht „irgendwo mal Schluss“.

„Und nein, es ist nicht ‚irgendwo mal Schluss‘. Wieso sollten wir Schluss machen?“

Wieso sollten wir Schluss machen? Wieso bitte sollten wir auch nur eine Sekunde vergessen, was uns wichtig ist, wofür wir einstehen, wofür wir kämpfen? Politische Ansichten hat man im Idealfall nicht nur im Politikunterricht. Politische Ansichten machen unsere Persönlichkeit aus und somit leuchtet es doch ganz klar ein, wieso das Persönliche politisch ist, oder? Jedenfalls erklärt es ganz gut, wieso das Politische persönlich ist.

Bei welcher Partei hört die Freundschaft auf?

Aber wie viel Politisches tut unserem Persönlichen gut? Muss man manchmal vielleicht doch für eine oder mehrere Sekunden vergessen, wofür man steht und kämpft? Ist es bisweilen doch ratsamer, die Gummibärchen Gummibärchen sein zu lassen?

Dazu habe ich versucht, verschiedene Meinungen und Geschichten einzufangen. Die Frage ist: Wie viel Politik hält das Private aus und bei welchen politischen Ansichten hört die Freundschaft auf?

„[…] Ich wollte euch dazu meine Geschichte schreiben[…]“, meldete sich eine Person via E-Mail bei mir, die wegen unterschiedlicher politischer Ansichten zur Coronapolitik den Kontakt zu einer Freundin verloren habe. „In ihren Augen wurde das Ganze dramatisiert, damit die Pharmaindustrie mehr Impfstoffe verkaufen kann[…]“ und die Mainstream-Medien seien gekauft und somit instrumentalisiert. Mit diesen Ansichten sei die Freundin bei der Person aber auf kontra gestoßen. „Wir haben zwischendurch beschlossen, das Thema einfach auszublenden[…]“, um ein ständiges Aneinandergeraten zu verhindern, aber so richtig funktioniert habe das nicht. Nach einem heftigen Streit habe die Freundin schließlich den Kontakt abgebrochen, obwohl die Person selbst mit dieser Meinungsverschiedenheit hätte leben können. Sie findet nämlich, eine Freundschaft solle so etwas zu einem gewissen Grad aushalten können, solange alle fair miteinander blieben.

Aber eben nur zu einem gewissen Grad. „[…] mit Leuten, die es […] übertreiben, könnte ich nie befreundet sein“, schreibt die Person und meint damit Dinge wie sexistische, rassistische oder ableistische Äußerungen im Freundeskreis.

Wo verläuft bei anderen Menschen die Grenze? Beispielsweise wurde ich einmal Zeugin, wie sich darüber ausgetauscht wurde, wen man lieben könne und wen nicht. Wen nicht, da war man sich schnell einig und zählte sogleich die halbe Parteienlandschaft auf. Wählt die CDU oder FDP? Nicht liebenswürdig. AfD? Erst recht nicht. Ich gebe die Frage mal weiter. Bei welcher Partei hört für dich die Freundschaft auf?

Andre arbeitet in einer antiquarischen Buchhandlung und trägt ein Band-T-Shirt von Nirvana. Ihm falle die Beantwortung dieser Frage schwer, denn „[…] nur, wenn jemand was wählt, verhält er sich ja manchmal im alltäglichen Leben anders.“ Es gebe schließlich Unterschiede dazwischen, „[…] was Leute erzählen und was sie so leben“, denkt er. Allerdings grenzt er ein, dass alles rechts der CDU und links der Linken für ihn „[…] zu großen Teilen nicht wählbar […]“ sei.

Als ich frage, ob er beispielsweise mit einer Person befreundet sein könnte, die den menschengemachten Klimawandel leugnet, denkt er kurz nach. Dann kommt er zu dem Schluss: „Ja, könnte ich.“ In einer Freundschaft müsse man nicht immer eine Position vertreten. „Es ist wichtig, dass man streiten kann.“

Diese Ansicht ähnelt ja auch der der Person, die sich wegen der Coronapolitik mit ihrer Freundin zerstritten hatte. Also, was muss eine Freundschaft denn jetzt wirklich aushalten?

Sinem sieht das alles noch ein bisschen anders.Sie ist gerade aus der Bahn gestiegen, als ich ihr die gleiche Frage wie Andre stelle. Eine Freundschaft mit einer den menschengemachten Klimawandel leugnenden Person? „Es würde schwierig sein“, befürchtet sie, aber sie würde den Kontakt zu der Person nicht gleich abbrechen. Stattdessen wolle sie versuchen, eine positive Veränderung bei der anderen Person zu erwirken, sie von der eigenen Meinung zu überzeugen. Dieser Ansatz ist unterschiedlich zu dem von Andre und der Corona-Person. Diese sprachen davon, dass eine Freundschaft Streit aushalten müsse. Sinem bezweifelt, dass eine Freundschaft, in der die Ansichten so weit auseinanderliegen, überhaupt langfristig halten könne. „[…] Ich weiß […] nicht, inwieweit unsere Interessen sich decken oder wir die Freundschaft halten würden“, sagt sie.

Auf die Frage, bei welcher Partei für sie die Freundschaft aufhöre, hat sie eine klare Antwort. „Ich würd‘ jetzt ehrlich sagen – es tut mir leid -, aber AfD […]“. Sie fügt hinzu: „Vielleicht erkennt man das ja: Ich bin keine gebürtige Deutsche.“ Darüber hinaus begründet sie: „[…] Rassismus gehört nicht zum Alltag und irgendwann sollte das Stop gesetzt werden. Deswegen bin ich gegen die AfD“ Dennoch würde Sinem in etwaiger Situation einer Freundschaft interessieren, was die Hintergründe der Person seien, wieso diese mit der AfD sympathisiere.

„Du musst entscheiden, ob es sich lohnt, die Freundschaft zu retten. Mach eine Liste der guten, dann eine der schlechten Seiten. Wenn die eine überwiegt, weißt du, was du zu tun hast.“ (aus The ‚Hate You Give‘)

Wo eine Freundschaft letztendlich aufhört, lässt sich nicht pauschal sagen, das ist wohl von Person zu Person unterschiedlich. Einen Tipp habe ich aber. Wenn ich ehrlich bin, stammt er nicht von mir, sondern ist aus dem Roman The Hate You Give von Angie Thomas. Dort heißt es von Mutter zu Tochter: „Du musst entscheiden, ob es sich lohnt, die Freundschaft zu retten. Mach eine Liste der guten, dann eine der schlechten Seiten. Wenn die eine überwiegt, weißt du, was du zu tun hast.“

Und auch wenn Politik nicht bei allen eine gleich große Rolle spielt, ist doch seit den 70ern klar, dass unser Privatleben zu der Gesellschaft, in der wir leben, beiträgt. Das Private ist politisch. Und deshalb sollte uns eigentlichen allen etwas an Politik liegen. Denn wenn wir unser Privatleben verändern, dann können wir damit auch die Gesellschaft verändern. Ganz à la „Ein kleiner Schritt für den Menschen, aber ein großer Sprung für die Menschheit“. Also ran an die Gummibärchentüten!

Amelie R

Von Amelie R

Amelie liebt Statistiken, Etymologien und schöne Worte. Sie geht in Hannover zur Schule und ist bei Fridays For Future aktiv. Sie hasst den Klimawandel und weiße Schokolade kann sie ebenfalls nicht leiden. Wenn es ihr zu leise ist, spielt sie am liebsten Schlagzeug und Gitarre.

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